Seite wählen

Was gibt meinem Leben Sinn?

Die Pandemie stellt seit zwei Jahren den Alltag vieler Menschen auf den Kopf. Lange geplante Reisen, Familienfeiern, Businessmeetings müssen umgeplant, verschoben, abgesagt werden. Das gewohnte Leben steht auf dem Prüfstand und damit auch die Frage nach dem Sinn.

von Rainer Wälde

Wenn Zukunftsgewissheit verloren geht

Wenn man schon am Klingeln erkennen könnte, welche Nachricht gleich kommt, ich glaube, dann würde ich manches Mal gar nicht erst den Hörer abnehmen. So wie kürzlich: Seit Monaten planen wir eine neue Tagung, in der es um Wertschätzung geht. Alles ist bis ins Detail vorbereitet. Die Zimmer gerichtet, die Tische und Stühle gestellt. Überall mit frischen Blumen dekoriert, das Essen bestellt. Dann kommt die Absage – drei Tage vor dem Beginn. Pandemiebedingt. Frust und Enttäuschung machen sich breit. Der „Spiegel“ schrieb kürzlich: „Aus der Veranstaltungsbranche ist eine Absage- und Verschiebebranche geworden.“ Auch in der Gutshof Akademie spüren wir das seit zwei Jahren in immer neuen Wellen. Bei manchen Planungen überlege ich mir: Macht das überhaupt Sinn? Dann muss ich mich neu motivieren. Was ist unsere Vision? Warum machen wir das?

Die Frage nach dem Sinn ist für mich ein zentraler Gedanke. Schließlich geht es um das, was mein Leben wertvoll macht, was mich erfüllt, mich lebendig hält. Dahinter verbirgt sich für mich ein wichtiger Zugang zur Quelle meiner Kreativität. Wenn mein Tun sinnlos scheint, fehlt mir die Motivation weiterzumachen. Bei Friedrich Schorlemmer, dem bekannten Bürgerrechtler und Theologen, habe ich einen spannenden Gedanken gefunden: „Wo Zukunftsgewissheit verloren geht, kommt eine Sinnkrise auf.“ Ich glaube, das ist ein zentraler Punkt, der viele Menschen derzeit umtreibt. Der gesellschaftliche Wandel führt nach meiner Beobachtung zu starken Erosionen. Vertraute Lebensmodelle stehen auf dem Prüfstand. Arbeit wird durch die Digitalisierung neu definiert. Dieser Umbau unserer vertrauten Umgebung läuft schon seit Jahren, durch die Pandemie hat er zusätzlichen Drive bekommen.

Das Homeoffice hat sich etabliert. Für manche ein Segen, für andere eher ein Fluch. Plötzlich fehlt der persönliche Austausch mit Kollegen, die gemeinsame Fahrt zur Arbeit, gewohnte Rituale als Team. Resilienz im Homeoffice ist das neue Trendthema in der betrieblichen Weiterbildung. Wie verhindern wir als Unternehmen, dass unsere Mitarbeiter in der häuslichen Isolation ausbrennen? Wie stärken wir die Widerstandskraft, damit sie mit der Firma verbunden bleiben? Sehr bewegt hat mich der Bericht einer Personalchefin: Während der Pandemie führt sie ihre Vorstellungsgespräche via Zoom, die neuen Mitarbeiter begrüßt sie am ersten Arbeitstag auf dem Firmenparkplatz. Dann läuft sie einmal um das Gelände, stellt die Firma von außen vor. Anschließend fährt der Mitarbeiter in sein Homeoffice, lernt die neuen Kollegen über den Bildschirm kennen. Wie soll dabei eine gemeinsame Identität, ein Gefühl für das Team entstehen, wenn man sich nicht im selben Raum erlebt? Mich wundert es nicht, als mir die Personalleiterin erklärt, dass sie im letzten Jahr 40 Prozent weniger Bewerbungen erhalten hat und händeringend neue Mitarbeiter sucht.

Was macht mein Leben wertvoll?

Schorlemmer beschreibt die Suche nach Sinn: „Er findet es in etwas, das ihn ganz erfüllt, wo Leben ganz da ist und erlebt wird: als erfüllter Augenblick.“ Doch in dieser neuen Zeit scheint genau das verloren zu gehen. Die körperliche Berührung wird von Distanz abgelöst. Der Dialog über die Ferne geführt. Jeder, der diese neuen Formen der Kommunikation ausprobiert, merkt schnell: Die Energie, wenn zwei Menschen im selben Raum sitzen, lässt sich nicht imitieren. „Treffen wir uns real, hybrid oder online?“ Dieser Satz hat in den letzten Monaten zu einer neuen Beziehungskultur geführt. Doch persönliche Begegnungen in einem Café oder einem Klassenzimmer sind durch nichts zu ersetzen. Das spürt jeder Schüler, der online seinen Lehrer verfolgt, jeder Vertriebsmitarbeiter, der seinen Kunden nur noch virtuell besucht. Viele fragen: Macht das überhaupt noch Sinn?

Ich merke, dass es mir während der Pandemie leichter fällt zu sagen, was sinnlos scheint, weil ich merke, wie viele kostbare Formen der Begegnung derzeit auf dem Prüfstand stehen. Das Wichtigste ist für mich die Gemeinschaft mit guten Freunden, mit der Familie, mit Weggefährten. Der gedeckte Tisch, das gemeinsame Essen und Trinken, die Begegnung im Raum. Wenn ich mein Herz teile, will ich nicht in eine graue Kameralinse starren, sondern in die Augen eines Freundes.

Glück ist Hilfe – Hilfe ist Sinn

Es braucht kein Gourmetessen. Frisches Brot, Käse, ein Glas Wein – gemeinsam genossen – reichen aus. Aber ich will den anderen spüren können, seine Körpersprache erkennen und merken, wie es ihm geht. Das sind die erfüllten Augenblicke, die meinem Leben Tiefe und Sinn geben. Ich brauche die Verbundenheit, das aufeinander Hören, dem anderen Hilfe zu geben, ihn aber auch um Unterstützung zu bitten. „Schenken und empfangen, auffangen und aufgefangen sein bilden ein Ganzes, machen uns ganz“, schreibt Schorlemmer. „Das Glück des Moments. Glück ist Hilfe. Hilfe ist Sinn.“

Den größten Sinn erlebe ich, wenn ich als Mentor junge Menschen begleiten kann. Seit zehn Jahren engagiere ich mich für eine Handvoll Studenten, Berufseinsteiger. Ich liebe unseren Austausch, bin neugierig, welche Lebensentwürfe sie haben und höre sehr gern zu. Wenn ich gefragt werde, teile ich auch meine Lebenserfahrung. Es ist ein entspanntes Geben und Nehmen. Auch ich lerne als alter Hase sehr viel dazu und bin nach den Begegnungen meist sehr erfüllt. Auf diesem Hintergrund starten Ilona und ich in diesem Jahr auch den „LifeCircle“ – ein Coaching-Programm für junge Leute zwischen 20 und 35 Jahren.

Gemeinsam mit Ben, den ich als Mentor seit elf Jahren begleite, haben wir eine Initiative gestartet, die sich „Tafelrunde“ nennt. Wie in der Artus-Sage versammeln sich junge Medienmacher an einem Tisch. Jeder hat seine eigene „Burg“ – doch wir unterstützen uns beim Drehbuchentwickeln, bei Filmproduktionen, tauschen uns aus und ermutigen uns gegenseitig. Ich glaube, diese Form von Gemeinschaft ist ein attraktives Zukunftsmodell. Nach meiner Beobachtung sehnen sich etliche Menschen nach Verbundenheit. Dazu hat Ilona in dieser Ausgabe einen ausführlichen Artikel geschrieben.

Bei Friedrich Schorlemmer habe ich einen passenden Begriff gefunden. Er nennt es „Gesamtsinn“ und versteht darunter „verwurzelt sein und wissen, wo und wie die Verwurzelung liegt“. Damit trifft er für mich einen springenden Punkt. Wir brauchen die Verwurzelung in unserer Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und auch in der Firma. Unsere Identität braucht das Gefühl von Zugehörigkeit. Der Wittenberger Theologe ergänzt: „Aus einem Gesamtsinn zu leben, heißt: alles geben und alles lassen können, weil es eine Zukunftsgewissheit gibt. Mein Leben ist eingeordnet in ein zielgerichtetes, in sich sinnvolles Ganzes.“

Nach meiner Beobachtung braucht es immer wieder kreative Auszeiten, um diesen Blick auf das Gesamtbild zu gewinnen. Gestern habe ich mich wieder für einen halben Tag in die Stille zurückgezogen. Das machen Ilona und ich alle zwei Monate und haben damit in den letzten 21 Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht. Jeder nimmt diese Auszeit für sich, um die Gedanken zu ordnen, das eigene Leben zu überprüfen und auch die Sinnfrage zu stellen: Bin ich mit dem, was ich mache, noch auf der Spur oder habe ich mein Ziel unterwegs aus den Augen verloren?

Der Schlüssel für ein gelingendes Leben

Dabei inspiriert mich ein Satz von Matthias Claudius: „Etwas Festes muss der Mensch haben, darin er zu Anker liege, etwas, das nicht von ihm abhängt, sondern davon er abhängt.“ Die Hingabe ist für mich der Schlüssel für ein gelingendes Leben. Ich muss mich einer sinnvollen Sache hingeben – so wie es Greta Thunberg Millionen von Menschen vorgemacht hat – oder einem Beruf, der mich erfüllt. Auch in meinen Beziehungen brauchte es Hingabe: Wenn ich mit Aufmerksamkeit und Neugier in ein Gespräch gehe, spürt mein Partner diese Hingabe. „Der einzige Sinn ist die Liebe. Liebesverlust führt zu Sinnverlust“, schreibt Schorlemmer. „Lieblosigkeit macht ebenso krank wie Sinnlosigkeit, weil Sinnlosigkeit auch Lieblosigkeit ist.“

Mich ermutigen diese Gedanken, im Alltag innezuhalten, mich neu auszurichten auf das, was meinem Leben Sinn gibt, aber auch einen Mehrwert für die Gemeinschaft stiftet. „Sinn ist das Erlebnis des erfüllten Augenblicks und gleichzeitig die Gewissheit, dass das eigene Leben in einer größeren Perspektive steht und darin aufgehoben, getragen ist“, so Schorlemmer. Diese innere Haltung motivierte auch Ilona und mich, vor fünf Jahren im Gutshof neu anzufangen, um ein Zentrum für Sinnsucher und Sinnstifter zu gründen. Wir freuen uns über alle Gäste, die wir in dieser Zeit inspirieren und begleiten konnten. Vielleicht zählen Sie in diesem Jahr auch dazu?